Das Ende der Unsichtbarkeit

Der Wecker klingelt. Sein Ton ist schrill und dumpf zugleich. Mühevoll, erschöpft und schlaftrunken richte ich mich auf, katapultiere mich aus dem Bett. Durch die hellen Vorhänge sehe ich einen Sonnenstrahl durchschimmern und fühle, wie mein Herz darob einen kurzen Höhenflug von Hoffnung und Vorfreude auf den Tag erlebt. Noch immer etwas benebelt erledige ich meine Morgentoilette, strauchle etwas bei der Wahl des Make-ups, der Frisur und meiner Kleidung, die ich heute tragen werde. „Du bist ein Star, also style, kleide und verhalte dich auch so!“  hat Gary, mein Manager und Regisseur des Films, den ich gerade drehe, gestern zu mir gesagt. Obwohl ich heute nicht an das Set muss, sondern frei habe, hallen seine Worte in meinen Ohren noch nach. „Ich hab‘ heute einfach keine Lust darauf, inkognito herumzulaufen...“, seufze ich laut, „ich will sehen und gesehen werden!“ Also wähle ich ein schwarzes, aufreizendes Abendkleid mit Rüschenrock, dazu passende Schuhe und verbringe eine Stunde mit dem Make-up. Anschließend gehe ich zufrieden und völlig bereit, aufzufallen, außer Haus.

Ich begegne einer Mutter mit Kind, die mich beide ergriffen anblicken und mich grüßen. Plötzlich höre ich jemanden von der anderen Straßenseite rufen: „Das ist sie, das muss sie sein!“  Wenig später gebe ich ein Autogramm. Das Strahlen des jungen Mannes beflügelt mich, ich winke den Leuten und nehme wahr, wie ich die Straße entlang, stolz und euphorisch dahinstöckle. Ja, ich verzaubere sie alle.

Es ist heiß, obwohl mein Kleid aus Seide ist, fühle ich, wie mir der Kragen langsam den Hals abschnürt und meine Schminke mehr oder weniger zerfließt.

Wenn ich inkognito unterwegs bin, beachten mich die Leute kaum, aber heute ist alles anders. Alle grüßen mich. Seit ich ein kleines Mädchen war, hatte ich immer das Gefühl, auf einer Bühne zu stehen und mir die Seele aus dem Leib zu schreien, jedoch niemand aus dem Millionenpublikum schenkte mir Aufmerksamkeit. Niemand wollte mein Verlangen, gesehen zu werden, bemerken. „Du darfst Dir diese Beachtung selbst schenken, du wirst sie nicht im Außen finden!“, hat Margaret, meine Psychotherapeutin gemeint, als ich ihr von meinen Gedanken erzählte. „Aber heute bin ich ein Star und die Leute lieben mich“, höre ich mich murmeln. Wieder kommen Leute auf mich zu, ich stolpere und falle den beiden Männern in die Arme.

„Vorsicht!“, rufen beide im Chor und fangen mich beschützend auf.  „Danke.“, erwidere ich und gehe etwas schwankend weiter. Wie zuvorkommend und liebevoll viele mit einem umgehen, wenn man berühmt ist, es ist eigentlich nicht fair. Diesen Status musste ich mir hart und eisern erkämpfen; Wie schön wäre es, wenn sich alle zueinander so verhalten würden, wie sie heute und in diesem Moment mich behandeln.

Denn mein Styling ist ja im Grunde nur Fassade, eine Maske. Der Mensch darunter ist oft von grenzenloser Einsamkeit und von einem sehnsüchtigen Begehren nach Beziehungen getrieben.

Ich entdecke schließlich eine leere, öffentliche Toilette. Auf einmal wird mir klar, wie unverantwortlich es ist, ohne Bodyguard und als Star gestylt in der Öffentlichkeit herumzulaufen. „Ein Wunder, dass sich die Menschen nicht rund um mich herum geschart haben, ich hatte Glück…“, denke ich laut. Der Spiegel auf dieser Toilette ist unsauber, aber ausreichend, um mich abzuschminken. Meine Wimperntusche ist verschmiert, mit einem Wattepad reinige ich meine Augen. Nachdem ich das Abschminkzeug wieder in meiner Handtasche verstaut habe, löse ich meine Hochsteckfrisur auf, frisiere mein Haar und binde mir einen unauffälligen Zopf. „Jetzt bin ich wieder inkognito…“, beruhige ich mich, setze die Sonnenbrille auf, die mein obligatorischer Begleiter ist und verlasse die öffentliche Toilette. Des Weiteren wähle ich den verlasseneren Weg, eine schmale Gasse, um nachhause zu gehen. In Gedanken versunken, höre ich in die Stille dieser Gasse hineinflüstern: „Miss Monroe, nicht wahr?“ „Ja“, antworte ich, „Ich bin Marilyn Monroe.“ Er hat mich ohne meine Maske erkannt! „Es ist mir eine Ehre, sie kennenzulernen.“, fügt er hinzu. Ich habe keine Angst, sondern spüre Vertrauen. Fühle mich dem Glück so nah.

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Kommentare: 1
  • #1

    Monika-Maria (Sonntag, 26 November 2023 21:42)

    Ach Barbara, wie wundervoll. So berührend meine Liebe. ❤️ � ♥️